Alexander Kagan | August 5, 2021

Working Capital Management: Wie Sie Potenziale effektiv freisetzen

Wenn man sich Working Capital Kennzahlen aus der Bilanz ansieht, betrachtet man sehr wahrscheinlich den am wenigsten repräsentativen Stichtag des gesamten Geschäftsjahres.

 

Working Capital Management ist für viele Unternehmen ein herausforderndes Thema, aber auch eines, dass sehr viel Potenzial birgt, wenn es richtig angegangen wird. Im Rahmen der Bachelorarbeit „Einflüsse des operativen Working Capital Managements auf die Unternehmensleistung“ von GCI-Praktikant Alexander Kagan wurde der Berater und Spezialist für nachhaltige Prozessoptimierung Philip Wolfsteiner zu diesem Thema befragt. Er spricht darüber, wo häufig Probleme in Unternehmen liegen, wie Potenziale effektiv freigesetzt werden können und welche Rolle Benchmarks dabei spielen.

 

Alexander Kagan: Welche Informationen sind notwendig, um die operative Working-Capital-Situation eines Unternehmens zu bewerten? Wo sind diese Informationen normalerweise zu finden?
Philip Wolfsteiner: Auf einer sehr allgemeinen Betrachtungsebene geben die Klassiker KPIs wie DSO, DPO und DIO einen guten Hinweis auf die Working-Capital-Situation eines Unternehmens. Um jedoch die zugrundeliegenden Treiber eines bestimmten Working Capital Niveaus gänzlich zu verstehen, ist es notwendig, eine tiefergehende Analyse auf einer viel disaggregierteren Ebene durchzuführen. Das bedeutet einerseits, dass Daten über einen bestimmten Zeitraum, am besten länger als 12 Monate, analysiert werden müssen. Andererseits heißt das, die Analyse auf die beeinflussenden Einheiten herunterzubrechen: Einzelne Kunden bei Forderungen, einzelne Lagerartikel (Stock Keeping Units – SKU) bei Vorräten und einzelne Lieferanten bei Verbindlichkeiten. Die notwendigen Informationen dafür lassen sich in der Regel im ERP-System eines Unternehmens finden. Sie sind jedoch nur sehr selten Teil von Standardberichten.

A.K.: Welche der benötigten Informationen messen Unternehmen in der Regel, bevor sie sich an ein Beratungsunternehmen wenden?
P.W.: Üblicherweise wird die Working Capital Performance nur auf sehr aggregierter Ebene und nur zu bestimmten Stichtagen (z.B. Jahresende, Quartalsende) gemessen. Die meisten Unternehmen messen DIO, DSO, DPO zumindest auf jährlicher Basis. Diese KPIs erzählen jedoch nur einen sehr kleinen Teil der Geschichte. Alle Ereignisse zwischen den Stichtagen werden ausgelassen und eine Ursachenanalyse ist sehr häufig von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Üblicherweise wird der Informationsmangel durch den hohen Grad an Komplexität bei der Verwaltung des Umlaufvermögens erklärt. Unternehmen haben in der Regel hunderte oder tausende von Kunden, Lieferanten und Stock Keeping Units. Jeder davon beeinflusst die Höhe des Working Capitals und muss daher analysiert und gemanaged werden. In den meisten Fällen gibt es auch kein dediziertes Working-Capital-Controlling-System im Unternehmen.

A.K.: Wie beurteilst du das Herausziehen von notwendigen Informationen aus den veröffentlichten Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen eines Unternehmens, um dessen aktuelle betriebliche Working-Capital-Situation zu analysieren? Welche wichtigen Daten könnten fehlen oder übersehen werden?
P.W.: Einerseits ist es oft die einzige Möglichkeit, die Working-Capital-Situation eines Unternehmens aus externer Sicht zu beurteilen. Andererseits ist dieser Ansatz nur ein kurzer Blick durch das berühmte Schlüsselloch. Bei der Verwendung von öffentlich zugänglichen Bilanzdaten muss man sich bewusst sein, dass man höchstwahrscheinlich den am wenigsten repräsentativen Stichtag des gesamten Geschäftsjahres betrachtet, wenn es um das Working Capital geht. Die meisten Unternehmen versuchen, die Höhe des Working Capital zum Bilanzstichtag zu optimieren. Bilanzen sind ein wichtiges Instrument für die Kommunikation mit Aktionären und anderen Stakeholdern wie finanzierenden Banken, Kreditrating-Agenturen, etc. Daher haben Unternehmen einen starken Anreiz für Bilanzkosmetik. Beim Working Capital wird das z.B. durch verspätete Zahlungen an Lieferanten oder das Leeren von Lagern erreicht. Zudem ist es von außen schwer zu beurteilen, welche Finanzinstrumente zur Optimierung des Working Capitals eingesetzt werden, also z.B. Factoring oder Reverse Factoring. Nicht zuletzt lässt sich das Geschäftsmodell in der Regel nicht allein durch die Betrachtung von Finanzberichten vollständig nachvollziehen. Fragen wie „Was ist die Vertriebsstrategie?“, „Wer sind die Kunden?“, „Wer sind die Lieferanten?“ oder „Was sind die Strategien der Wettbewerber?“ bleiben unbeantwortet. Diese Faktoren beeinflussen jedoch die optimale Höhe des Working Capitals stark.

A.K.: Analysieren Unternehmen deiner Erfahrung nach regelmäßig ihre Forderungen und Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen? Was sind dabei die Hindernisse?
P.W.: Normalerweise überprüfen Unternehmen überfällige Forderungen auf regelmäßiger Basis (d.h. wöchentlich, zweiwöchentlich, monatlich). Wenn es aber darum geht, Zahlungsziele und Zahlungsverhalten strukturiert zu analysieren, scheitern viele Unternehmen. Ihnen fehlt ein dezidiertes Working Capital Controlling, das die richtigen Werkzeuge und Prozesse erfordert. Standard-ERP-Systeme stellen die notwendigen Working-Capital-Informationen oft nicht in einer Weise zur Verfügung, die eine tiefergehende Ursachenanalyse ermöglicht.
Das Working Capital Management hat keinen direkten Einfluss auf die Profitabilität des Unternehmens und hat daher nicht die gleiche Priorität wie Umsatzzahlen oder Kosten. Zudem sind Working-Capital-KPIs selten Teil von Incentive-Systemen für Manager oder Mitarbeiter. Daher gibt es wenig Motivation, das Working Capital regelmäßig und dauerhaft im Auge zu behalten.

A.K.: Wie viel Potenzial steckt in der Verbesserung des operativen Working Capital Managements eines Unternehmens und welcher KPI bietet dabei das größte Verbesserungspotenzial? Was sind die entscheidenden Einflussfaktoren?
P.W.: In der Regel ist eine durchschnittliche Reduktion des Working Capitals von über 20% realistisch. Allerdings ist die Situation der Unternehmen sehr unterschiedlich. Ein Beispiel hierfür ist der Reifegrad des Working Capital Managements. Einige Unternehmen haben bereits begonnen, sich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen und haben Working Capital KPIs in ihr Managementsystem integriert. Andere beginnen gerade erst, das Working Capital zu priorisieren. Zudem spielt das Geschäftsumfeld eine wichtige Rolle. Die Zahlungsbedingungen hängen zum Beispiel von der Verhandlungsmacht gegenüber Kunden und Lieferanten ab. Unternehmen mit hoher Verhandlungsmacht, beispielsweise aufgrund ihrer Größe oder ihres Alleinstellungsmerkmals, werden ihr Working Capital leichter optimieren können. Außerdem hängt das Potenzial davon ab, wie Working Capital-intensiv das Geschäftsmodell eines Unternehmens ist. Unternehmen, die reine Auftragsproduktion betreiben, werden geringere Vorräten benötigen, während Unternehmen, die viel Geschäft in Übersee oder Südeuropa tätigen, aufgrund der längeren Zahlungsfristen, die vereinbart werden müssen, wahrscheinlich höhere Forderungen haben.
Unserer Erfahrung nach ist der schwierigste und komplexeste Teil des Working Capital Managements das Bestandsmanagement. Daher liegt in vielen Fällen ein erhebliches Potenzial in den Vorräten. Allerdings ist, wie bereits erwähnt, jedes Unternehmen anders und agiert in einem anderen Geschäftsumfeld. Ein Unternehmen mit einer sehr fragmentierten Kundenstruktur und einer stark dezentralisierten Vertriebsorganisation hat vielleicht mehr Raum für Verbesserungen bei den Forderungen aus Lieferungen und Leistungen, während ein Unternehmen mit einem breiten Produktportfolio, das auf Vorrat produziert wird, Schwierigkeiten mit den Lagerbeständen haben könnte.

A.K.: Welche führende(n) KPI(s) wird/werden am häufigsten verwendet, um die Ergebnisse der Maßnahmen zu beschreiben? Warum gerade diese Kennzahl(en)?
P.W.: Um die Auswirkungen der Working-Capital-Verbesserung zu messen, verwenden wir Kapitalkosten und ROCE. Die Kapitalkosten messen den Einfluss des Working Capitals auf die Profitabilität und können daher leicht in bestehende Managementsysteme integriert werden. Sie sind auch ein gutes Maß für Trade-off-Entscheidungen, wenn es darum geht, Working-Capital-Verbesserungen mit den damit verbundenen Risiken zu vergleichen. ROCE kombiniert Rentabilität und notwendiges Kapital und eignet sich daher auch zur Messung der gesamten Unternehmensleistung, einschließlich des Working Capitals.

A.K.: Was sind deiner Meinung nach die effektivsten, kurz- und langfristigen Hebel, um das operative Working Capital Management eines Unternehmens zu verbessern?
P.W.: Natürlich sind finanzielle Hebel wie Factoring kurzfristig sehr effektiv, aber auch sehr kostspielig. Daher empfehlen wir, das operative Working Capital zu verbessern, bevor man sich Finanzinstrumenten zuwendet. In der Regel gibt es einige Quick Wins, die das Working Capital kurzfristig verbessern können: zB die Verbesserung des Mahnwesens, die Harmonisierung der Zahlungsbedingungen (für Kunden und Lieferanten) und die Eliminierung von Langsamdrehern im Lager. Um das Working Capital jedoch spürbar und nachhaltig zu reduzieren, müssen Unternehmen ihre Geschäftsprozesse überdenken – zum Beispiel, wer ist für die Festlegung der Zahlungsbedingungen verantwortlich? Welche Kunden bzw. Lieferanten haben Anspruch auf welche Zahlungsbedingungen? Wer ist für das Bestandsmanagement verantwortlich? Verfügen diese Personen über die notwendigen Informationen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen? Wie wird gutes Working Capital Management gemessen und entlohnt (Anreizsysteme)? Die schlechte Nachricht ist: Es gibt kein Patentrezept. Die gute Nachricht ist: Es gibt so viele Möglichkeiten, das Working Capital zu verbessern und jedes Unternehmen kann den Weg finden, der am besten zu seinen Bedürfnissen und Strategie passt.

A.K.: Was kann ein Unternehmen aus Benchmarks innerhalb der eigenen Branche und Vergleichen mit anderen Branchen lernen und was nicht? Was gilt es dabei zu beachten?
P.W.: Benchmarks können eine grobe Orientierung und einen Hinweis auf die Größenordnung von Potenzialen geben. Sie können außerdem dabei helfen, ein Gefühl der Dringlichkeit innerhalb der Organisation zu schaffen und das Thema hervorzuheben. Wenn die Benchmarks von außen, zum Beispiel durch den Vergleich von Bilanzen, durchgeführt werden, werden diese definitiv keine Auskunft über Maßnahmen für Verbesserungen liefern. Denn Working-Capital-Kennzahlen, die aus öffentlich zugänglichen Bilanzen abgeleitet werden, basieren auf dem am wenigsten repräsentativen Stichtag des gesamten Geschäftsjahres. Vergleiche werden zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass Unternehmen Finanzinstrumente wie Factoring auf unterschiedliche Weise nutzen. Nicht zuletzt sind externe Benchmarks – bis zu einem gewissen Grad – wie der Vergleich von Äpfeln und Birnen. Geschäftsmodelle, Strategien und Geschäftsumfelder unterscheiden sich immer, selbst innerhalb derselben Branche. Daher empfehlen wir, wann immer möglich, interne Benchmarks zu verwenden und sich nicht zu sehr auf Indikatoren anderer Unternehmen zu verlassen.

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