Walter Maderner | September 28, 2018

Forecasting oder wie Sie die Zukunft vorhersagen ohne sie zu kennen

Da staunte der Truthahn nicht schlecht

Jeden Tag wird der Truthahn vom Metzger gefüttert. Eintausend Tage lang. Mit wachsender statistischer Wahrscheinlichkeit berichtet der Truthahn täglich seinem Analysestab, dass der Metzger dem Vogel wohlgesonnen sei. Kurz vor Thanksgiving kommt es zum überraschenden Trendbruch. Statt mit Futter besucht ihn der Metzger mit dem Schlachtermesser – ausgerechnet dann, als die Sicherheit des Truthahns am größten war, dass er vom Metzger nichts zu fürchten habe. Die Schlachtung trifft ihn unerwartet, denn er hatte die Trendwende aufgrund seines naiven Forecasts nicht kommen sehen. Bis zum tausendsten Tag stützte er seine Prognosen ausschließlich auf die eigenen historischen Erfahrungswerte und missachtete eine wichtige externe Prädiktorvariable: das Ernährungsverhalten des Menschen zu Thanksgiving – bis er irgendwann gerupft, ausgenommen und geschmort am Teller landete und gar keine Aussagen mehr treffen konnte. Ein klassischer Forecasting-Fehler, der nicht nur Truthähnen immer wieder das Leben kostet.

Ein guter Forecast hätte die echten Muster und Beziehungen erfasst, die in den Vergangenheitsdaten vorhanden sind, jedoch nicht vergangene Ereignisse repliziert, die in Zukunft nicht auftreten werden und umgekehrt. Dabei hätten alle verfügbaren Informationen über die Geflügelbranche einschließlich historischer Daten und des Wissens über zukünftige Feiertage herangezogen werden müssen, die sich auf den Forecast auswirken könnten. Doch wie kommt der Truthahn nun zu einem akkuraten Forecast? Es folgt eine Schritt-für-Schritt Anleitung, die unserer Projekterfahrung nach zu verlässlichen Prognosen und Forecasting-Prozessen führt.

Schritt 1: Definieren Sie Umfang und Anspruchsniveau – So grob wie möglich und so detailliert wie nötig

Die wichtigsten Fragen stehen zu Beginn. Man kann die Wichtigkeit des ersten Schrittes nicht genug betonen, weil hier die meisten Fehler passieren: Was ist der Zweck des Forecasts? Welche Entscheidungen will man auf Basis des Forecasts treffen und wer wird mit dem Forecast arbeiten? Die Fragestellung definiert den Zeithorizont und die Detaillierungstiefe. Es gilt der Grundsatz: So grob wie möglich und so detailliert wie nötig. Die Genauigkeit Ihres Forecasts hängt stark vom Aggregationsniveau ab. Haben Sie schon einmal Google Earth verwendet? Bei der Betrachtung des virtuellen Globus zeigt sich ein ganz ähnliches Bild. Zoomt man etwa auf 900 Höhenmeter heran, scheinen die Satelliten- und Luftbilder gestochen scharf. Geht man jedoch weiter in die Tiefe, z.B. auf 100 Meter, wird die Auflösung zunehmend pixelig und verschwommen. Gleiches gilt für das Forecasting: Je aggregierter die Größen betrachtet werden, desto kleiner ist der relative Prognosefehler. Das ist eine mathematische Tatsache.

Umgekehrt muss die Beschreibungsebene aber natürlich ausreichen, um die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel macht es beim Vertriebs-Forecast keinen Sinn, die Umsätze und Absatzmenge jedes einzelnen Artikels je Filiale vorherzusagen, weil für Vertrieb und Produktion die gewonnenen Einsichten meist auf Ebene von Produktgruppen und Vertriebsregionen ausreichen. Eine globale Umsatzvorschau für eine Vertriebssteuerung wäre umgekehrt jedoch zu grob.

Schritt 2: Generieren Sie eine Datenbasis – Wenn Ihr Unternehmen bloß wüsste, was es weiß!

Wir leben heute im scheinbaren Datenüberfluss. Im Zeitalter von Big Data sind Anzahl und Umfang von Daten selten das Problem, ihre Erfassung, Qualität und Strukturierung allerdings umso öfter. Hier kann jedes Unternehmen den ersten Schritt gehen und die eigenen Datentöpfe anzapfen. Grundvoraussetzung dafür ist, dass Transparenz darüber herrscht, welche Datentöpfe überhaupt vorhanden sind und wie gut deren Qualität ist. Unserer Erfahrung nach herrscht meist nicht ausreichend Transparenz über das Vorhandensein von Daten aus dem ERP und den vorgelagerten stationären oder mobilen Systemen (z.B. Handhelds). Es lohnt sich daher, stets auf Datenjagd zu gehen und sich einen Überblick über die Landschaft zu verschaffen. Vor allem Sensordaten sind unserer Erfahrung immer noch eine Daten Schatzkiste.

Das Fachwissen der involvierten Experten ist die zweite wichtige Informationsquelle, die zum einen ermöglicht, das Forecasting Modell zu strukturieren und zum anderen, Lücken zu schließen und die Ergebnisse zu plausibilisieren. In unseren Projekten haben wir immer wieder gesehen, dass das Wissen der Experten nicht strukturiert erfasst und verarbeitet wird. Das beste Beispiel ist das Wissen der Vertriebsmitarbeiter über Kunden und Wettbewerb.

Schritt 3: Wählen Sie eine Methode – Quantitativ oder nicht quantitativ ist hier die Frage

Wenn die Datenlage nicht ausreicht, um ein quantitatives Modell zu erstellen oder die Erfahrungswerte aus der Vergangenheit zu wenig Rückschlüsse für Zukunftsprognosen erlauben, sind qualitative Methoden anwendbar. Diese basieren ihre Vorhersagen auf dem Urteilsvermögen der Experten. Beispiele sind die naive Methode (wie die des Truthahns), die Delphi-Methode, Marktforschung, historische Analogie und Szenarien-Bildung.

Unter den quantitativen Methoden unterscheidet man Zeitreihenanalysen und kausale Methoden. Quantitative Zeitreihenanalysen – wie z.B. exponentielle Glättung und Autoregressions-Modelle – gehen davon aus, dass die Muster in den statistischen Vergangenheitsdaten die zu prognostizierende Variable in der Zukunft festlegen. Kann man hingegen Kausalitäten zwischen der zu prognostizierenden Größe und anderen Einflussfaktoren festmachen, eignen sich quantitative kausale Methoden. Oft sind Prädiktorvariablen, also externe Größen wie beispielsweise die demografische Entwicklung oder die Kaufkraft einer Region für ein Retail Business, das Wetter für den Getränkekonsum oder der Feiertagskalender für die Geflügelbranche vorhanden. Die Prädiktorvariablen ermöglichen es in diesen Modellen, externe Einflüsse direkt und explizit in die Prognose zu integrieren. Damit wird der Erkenntnisgewinn bei der Anwendung des Forecasts gesteigert.

Interessant wird das Thema Forecasting vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen der künstlichen Intelligenz (KI). Wir thematisieren die praktischen Anwendungen der KI im Blog “Anwendungen von KI in der Supply Chain, Forecasting und Beschaffungsmanagement.”

Schritt 4: Die Modelle testen, auswählen und automatisieren – Survival of the fittest

Legen Sie sich nicht auf das erstbeste Modell fest. Schauen Sie sich um, toben Sie sich aus und testen Sie verschiedene Methoden. There are many fish in the sea. Und viele Prognosemodelle in der Forecasting Toolbox. Einen Überblick über die diversen Prognosemodelle finden Sie in unserem Whitepaper. Über eine gewisse Zeitspanne hinweg wird man unter Umständen sogar mit mehreren Modellen parallel fahren müssen. Sind die Zeitreihen über längere Zeiträume verfügbar, kann man einen Vorab-Test der Modelle durchführen, indem man die jüngste Vergangenheit in der Größenordnung eines Prognose Horizontes als Testzeitraum heranzieht und so schon eine erste Einschätzung über die Prognosequalität jedes Modells erhält.

Und pflegeleicht soll’s sein! Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Erstellung eines Forecasts ist seine möglichst automatisierte Erstellung. Im Idealfall ist das finale Modell ausgewählt und fertig parametrisiert, sodass die Erstellung des Forecasts nur auf die Befüllung der Daten hinausläuft.

Schritt 5: Forecasting muss zum Regelprozess werden – Breite Partizipation und Transparenz sichern den besten Wissensstand

Die Parametrisierung und Auswahl der mathematischen Modelle mögen zwar wenigen Experten vorbehalten sein – bei der Durchführung des Forecasts gilt jedoch: The more the merrier! Hier ist breite Partizipation angesagt. Zum einen müssen alle betrieblichen Funktionen involviert werden, die mit dem Forecast arbeiten, zum anderen alle, die wesentlichen Input dazu liefern können. Letztere müssen ja alle jene Informationen beisteuern, die bekannt, disruptiv und nicht aus den Vergangenheitsdaten erschlossen werden können. Der Forecast muss zum Regelprozess werden und in den Planungsprozess nahtlos integriert werden.

Schritt 6: Nichts währt ewig – Wenn die Genauigkeit nachlässt, dann zurück zum Start

Neben der Etablierung des Forecasts als Regelprozess muss die kritische Überprüfung der Forecast Abweichungen ebenso als Regelprozess implementiert werden, vor allem wenn dieser automatisiert abläuft. Modelle unterstellen ja starre Systemzusammenhänge und dies muss nicht unbedingt für alle Zukunft zutreffen. Erwarten Sie von Ihrem Modell also keine ewige Treue – lernen Sie es als Zeitabschnittspartner zu verstehen und haben Sie keine Trennungsängste, wenn es Ihnen nicht mehr dienlich ist. Wenn die Abweichungen zunehmen, dann gilt es diese zu verstehen. Das Modell und dessen zugrunde liegenden Prämissen müssen kritisch überprüft und gegebenenfalls adaptiert werden.

Zusammengefasst kann Ihnen der Forecast dabei helfen, die kollektive Intelligenz Ihres Unternehmens besser zu nutzen und von fundierten Prognosen akkurate Budgets und zielführende Strategie Entscheidungen abzuleiten. Gute Forecasts ermöglichen

  • Eine bessere Allokation der Ressourcen
  • Einen besseren Service Level am Markt
  • Ein besseres Verständnis der Systemzusammenhänge im Geschäft

Daher sollten Sie sich für Ihr Unternehmen die folgenden Fragen stellen

  • Arbeiten Sie aktuell mit Forecasts in Ihrem Unternehmen?
  • Sind sie mit dem Ablauf und der Qualität der Forecasts zufrieden?
  • Haben die Forecasts für Ihr Unternehmen bisher Mehrwert gebracht?

Wenn Sie nicht alle Fragen deutlich bejahen, sollten Sie darüber nachdenken, diesen Prozess neu aufzusetzen. Lassen Sie sich nicht ausnehmen und in die Pfanne hauen wie ein Thanksgiving-Vogel! Folgen Sie diesem Download-Link, um dem Schlachtermesser zu entgehen und mehr über die GCI 6-Schritte-Anleitung zum erfolgreichen Forecasting zu erfahren.

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