
B2B-Vertriebe im Wandel: Herausforderungen und Potenziale
In der alten Welt war noch alles in Ordnung. Im B2B-Vertrieb brauchte es nicht mehr als ein gutes Produkt, einen passablen “One size fits all”-Ansatz und ein paar tragfähige Kundenkontakte. Die langfristig stabile Nachfrageentwicklung und eine überschaubare Wettbewerbslage haben mangelnde Effektivität im Vertrieb weitgehend überlagert.
Die neue Welt ist aber anders. Und das nicht erst seit Ausbruch der Corona-Pandemie – auch wenn diese das Ausmaß der Defizite im Vertriebsmanagement in einer neuen Deutlichkeit aufzeigt. In Wahrheit verschlafen viele B2B-Vertriebe schon seit Jahren wesentliche Entwicklungen, die sie zunehmend unter Druck bringen. Geringe Markttransparenz, steigende Kundenanforderungen und neue Technologien verändern das Vertriebsumfeld im B2B-Bereich grundlegend. Lesen Sie hier, welche Faktoren veränderungsresistenten Vertrieben die Performance verhageln.
Kennen Sie das Boiling-Frog-Syndrom? Es basiert auf einer Beobachtung aus der Biologie: Setzt man einen Frosch in kochendes Wasser, springt er sofort heraus. Setzt man ihn allerdings in einen Topf mit kaltem Wasser und beginnt dann langsam, die Temperatur zu erhöhen, bleibt er sitzen. Er spürt die Gefahr nicht, weil sie schleichend daherkommt und lässt sich ohne Fluchtversuche totkochen. Das Boiling-Frog-Syndrom steht heute sinnbildlich für die Veränderungsresistenz vieler Unternehmen. Aus unserer Beratungserfahrung wissen wir, dass besonders B2B-Vertriebe zu einer gefährlichen Passivität neigen, wenn die Umstände eigentlich das Gegenteil erfordern. Darum haben wir die wichtigsten Temperaturtreiber im Vertriebsumfeld für Sie zusammengefasst:
- Geringe Markttransparenz
Aus der wachsenden Menge an Industrieprodukten in Kombination mit Serviceleistungen resultiert ein schier unüberschaubarer Angebotsmarkt. Dazu kommt, dass sich die Anwendungsfelder zunehmend weiter ausdifferenzieren. Vertriebsmitarbeitende wissen oft nicht mehr, wie die Produkte, die sie absetzen, bei ihren Kunden wirklich eingesetzt werden. Dadurch versiegt aber eine wertvolle Inspirationsquelle für die Gestaltung von bedarfsgerechten Angeboten. Wieso die geringe Markttransparenz nicht nur im Vertriebs-, sondern auch im Preismanagement eine große Herausforderung darstellt, lesen Sie hier. - Steigende Kundenanforderungen
Fakt ist, dass die Marktnachfrage nicht statisch ist. Sie befindet sich vielmehr im ständigen Wandel. Die zunehmende Dynamik der Umfeldveränderungen und die steigenden Ansprüche an B2B-Kunden – getrieben durch ihre eigenen Abnehmer – stellen immer höhere Anforderungen an den Vertrieb von Industrieunternehmen: Bei Produkt- und Servicequalität, Einhaltung von Toleranzen, Reaktionszeiten sowie Flexibilität in der Belieferung kann heute kein Kunde mehr Abstriche machen, nur weil er mit dem Vertriebsmitarbeitenden des Haus-und-Hof-Zulieferers gerne Essen geht. Dafür ist der Druck, unter dem B2B-Kunden selbst stehen, zu hoch und die Fülle an alternativen Anbietern und Lieferanten zu groß. - Kundenspezifische Lösungen
Im B2B-Geschäft gleicht eigentlich heute schon kein Auftrag dem anderen. Daher braucht es individuelle Vertriebsansätze und -strategien, die auf die Ausgangslage und das Geschäftsmodell von Einzelkunden eingehen. Es ist Zeit, Vertriebsmanagement über die Grenzen von Produktsortimenten und Marketingaktionen hinauszudenken und kundenspezifische Werttreiber in den Bereichen Logistik, Forschung und Entwicklung sowie After-Sales-Services in den Fokus zu nehmen. Denn die neue Welt zeigt: One size fits none.
- Steigende Cost-to-Serve
Die unweigerliche Konsequenz aus den beiden vorangegangenen Punkte ist, dass die Kosten pro Auftragsabwicklung rapide steigen. Die Heterogenität der Nachfrage führt zu einer Hyper-Fragmentierung der Kundensegmente – bis hin zum sogenannten “Segment of One”, bei dem jeder Kunde ein eigenes Segment darstellt. Der Einzelkunde will individuell betreut werden, seine wachsenden Anforderungen sollen zu immer niedrigeren Preisen erfüllt werden. - Intensivierung Wettbewerb
Parallel dazu stellen wir durch die fortschreitende Internationalisierung eine zunehmende Intensivierung des Wettbewerbs fest. Als Reaktion darauf flüchten sich immer mehr Industrieunternehmen in Marktnischen. So treibt die Globalisierung die Spezialisierung von Produktionsunternehmen weiter voran.
- Steigender Preisdruck
Wie wir hier bereits festgestellt haben, rittert eine steigende Anzahl an Anbietern um die Nachfragemengen im B2B-Bereich. Somit wird der Preis in vielen Segmenten zum immer stärker kaufentscheidenden Faktor – auch deshalb, weil sich die Wettbewerbssituation nicht nur anbieter- sondern auch kundenseitig verschärft. Die Preisbereitschaft sinkt.
- Steigende Volatilität der Nachfrage
Die Corona-Pandemie hat auf eindrucksvolle Weise gezeigt, was sich im Zuge diverser Schocks und Krisen auch schon davor abgezeichnet hat: Die Nachfrageentwicklung wird zunehmend unvorhersehbar. Nicht nur, weil das Umfeld, in dem wir wirtschaften unberechenbarer wird – auch, weil die Reaktionen darauf unterschiedlich ausfallen. Während manche Unternehmen Vorräte “bunkern”, bauen andere ihre Läger massiv ab. Dadurch steigen die Anforderungen an die Flexibilität der Lieferanten und Lieferketten zusätzlich.
- Erhöhtes Reaktionsvermögen
Wer kurzfristige Bedarfe decken will, muss schnell reagieren können. Wie oben erwähnt, schlägt sich das auch in den Cost-to-Serve nieder. Die Herausforderung für viele Industrieunternehmen besteht heute darin, diese Serviceleistungen adäquat zu bepreisen und zu monetarisieren. Über die Entwicklung von wertorientierten Preisstrategien, die sich am realen Kundennutzen orientieren, lesen Sie hier mehr.
- Nutzung neuer Technologien
Die Digitalisierung unterzieht die Arbeitsweisen des B2B-Vertriebs einem tiefgreifenden Wandel. IT-Management hat sich innerhalb weniger Jahre von einer Support-Funktion zu einem kritischen Erfolgsfaktor entwickelt. Chatbots und Avatare, Produktkonfiguratoren und Serviceportale – mithilfe neuer Technologien können B2B-Unternehmen ihren Kunden helfen, sich auf einem immer unübersichtlicheren Angebotsmarkt zurechtzufinden.
- Nutzung von Kunden- und Transaktionsdaten
Eine überwältigende Mehrheit der Industrieunternehmen erfasst Kunden- und Auftragsinformationen heute in elektronischen Systemen. Damit ist eine wertvolle Grundlage für Prozessoptimierung und das Sammeln von Market Intelligence gelegt. Die Praxis zeigt allerdings, dass das Erkenntnispotential dieser Datenbanken nur selten genutzt wird. Die Herausforderung besteht heute weniger in der Erfassung und Sammlung von Daten, als vielmehr im intelligenten Zusammenführen und Auswerten von bereits verfügbaren Informationen. - Professionalisierung Einkaufsprozesse
Kaufentscheidungsprozesse unterliegen im B2B-Bereich einer ungleich höheren Komplexität als im B2C-Geschäft. Wer kundenseitig am Einkaufsprozess beteiligt ist und welche Funktion (F&E, Produktmanagement, Produktion, Beschaffung etc.) dabei das letzte Wort hat, ist oft undurchsichtig. Viele Unternehmen haben Buying Center eingerichtet, um den Kaufentscheidungsprozess zu professionalisieren. Dadurch sind die wirklich kaufentscheidenden Faktoren für Zulieferer tendenziell noch schwieriger nachvollziehbar. - Cross- und Up-selling von Produkten und Services
Wer den einzelnen Kunden mit der Gesamtheit seiner Anforderungen und Bedürfnisse im Blick hat, kann passgenaue Produkt-Service-Angebote liefern. Auf diese Weise kann das Umsatzvolumen oft deutlich ausgebaut werden. Während sich Cross-selling auf Zusatzverkäufe in verschiedene Anwendungen bezieht, werden beim Up-selling höherwertige bedarfsgerechte Produktversionen angeboten. - Multi- und Omni-channel
Mit den Bedarfen differenzieren sich auch die Vertriebswege aus, um diese zu befriedigen. Sie reichen von Direktvertrieb, dem Vertrieb über Vertreter*innen und Agent*innen bis hin zu Großhändlern und Plattformen. Dabei lösen sich immer mehr Unternehmen von einem einzigen Absatzkanal und bieten ihre Produkte über mehrere Kanäle an. Die Kanäle können getrennt voneinander betrieben werden oder sogar miteinander vernetzt werden. Dadurch entstehen neue, unterschiedliche Customer Journeys. - Kundenbeziehung vs. Wertpartnerschaft
Nicht jeder Kunde ist an einer Wertpartnerschaft interessiert, innerhalb der er sich
z. B. an der Produktentwicklung beteiligt. Oft handelt es sich um ein klassisches Kunden-Lieferanten-Verhältnis, über das der Preis entscheidet. Umso wichtiger ist es, das eine vom anderen unterscheiden zu können. Denn mit dem richtigen Engagement können Wertpartnerschaften enorme Potentiale freisetzen, während genau dieses in anderen Fällen vergebene Liebesmüh ist.
Zusammengefasst: Die B2B-Vertriebe sitzen im Kochtopf und die Temperatur steigt. Eine Vielzahl an gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen, die miteinander verstrickt sind und sich teilweise gegenseitig verstärken, heizen dem Vertriebsmanagement ein. Es ist Zeit, sich zu bewegen. Wer kein Frosch ist, reagiert spätestens jetzt mit bedarfsgerechten Mehrwert-Angeboten und Servicelevels, setzt effiziente Vertriebsprozesse und professionelle Führungs- und Steuerungssysteme auf. Denn Vertriebseffektivität und -effizienz wird in der neuen Welt immer mehr zum kritischen Erfolgsfaktor. Wo genau man dabei ansetzt, lesen Sie in den folgenden Artikeln.
Eine Übersicht der wichtigsten Herausforderungen im B2B-Vertriebsmanagement und weiterführende Erklärungen haben wir im kostenlosen Download für Sie zusammengefasst.
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